In dieser Rubrik finden Sie Texte und Impressionen zu besonderen, bereits vergangenen Ausstellungen.
Informationen über aktuelle Ausstellungen entnehmen Sie bitte der Rubrik "
Aktuelles".
Eindrücke von Ausstellungen mit der Künstlergruppe SCHLOT 1 sind bei
project a:NaB und
SCHLOT 1 zu finden.
Und hier sind Ausstellungen der Künstlerinnengruppe
KRAPP WIE GOLD bildlich dokumentiert.
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24. März bis 9. Juni 2024
Jagdszene : Kunst
Teilnahme mit mehreren Arbeiten an der großen Ausstellung (anlässlich der Wiedereröffnung nach der Ahr-Eifel-Flutkatastrophe 2021) im KunstForumEifel in Gemünd.
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9. März bis 1. September 2024
GÄRTEN III
Textilkunstausstellung zusammen mit Angelika Krohne im HAUS DER SEIDENKULTUR in Krefeld
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30. August bis 4. September 2023
"Blumenladen"
Einzelaussstellung im Torhaus der Flora / Botanischer Garten Köln
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Eifelkind und Ardennenkind
Über die Ausstellung "Eifelkind – neu aufgestellt" in Pronsfeld
Es war einer dieser seltenen Momente, dieser ach so seltenen Momente, in denen das Sternengetriebe stehen bleibt, in denen alles wie in langsamster Zeitlupe abläuft, in denen man jede einzelne noch so kleine Sekunde als Ewigkeit wahrnimmt. Man ist auf einmal pure Existenz, reines hochkarätiges Glück, und alle und alles um einen herum genauso und jeder empfindet das gleiche. Man hat das Gefühl, alles ist in Auflösung begriffen und es ist perfekt so und du hebst sowieso gleich ab. So war es an jenem Januarabend in der Galerie Alte Post in Pronsfeld.
Anwesend waren die Alte-Post-Galeristin Mechthild, die Textilkünstlerin Nadeschda, die Musikerin und Chorleiterin Gudula, ihre gemeinsame Freundin Maria, die Galerie-am-Pi-Inhaberin Christiane aus der Künstlersiedlung Weissenseifen und der belgische Maler und Dichter Pierre.
An diesem kalten Sonntagnachmittag im Januar hatte eine Lesung in der kleinen Galerie stattgefunden. Pierres Gedichte wurden im oberen Stockwerk von zwei Vorleserinnen in deutscher und französischer Muttersprache insgesamt dreißig Zuhörerinnen und Zuhörern vorgetragen, während der etwas publikumsscheue Pierre es vorzog, mit einer Tasse Kaffee allein im unteren Galerieraum am bullernden Holzofen zu sitzen, um mit der für ihn noch neuen Umgebung warm zu werden. Wo war er hier nur hingeraten? Gemütlich und anheimelnd war es ja, das mußte er zugeben. Eine kleine alte Post, nur fünfundzwanzig Kilometer von seinem eigenen Haus entfernt, die sich mit Hilfe von Lehmputz, Kalkfarbe, Holzdielen und Eisengeländern in eine schmucke, schlicht-schöne, atmosphärische Galerie verwandelt hatte. Auf einer Tafel, die an der hölzernen Treppe lehnte, waren die Worte "Eifelkind und Ardennenkind" zu lesen. Eifel und Ardennen – das war das gleiche grenzüberschreitende Bergland des Schiefergebirges, das sich von Frankreich über Belgien und Luxemburg nach Deutschland zog, oder umgekehrt. Hüben und drüben trug es nur einen anderen Namen. Das Ardennenkind war er, der alte Mann aus St.Vith, der die räumlichen Grenzen und die Sprachgrenzen mit seinem Humor und seinen leichten, fliegenden Worten und Bildern längst überwunden hatte. Der noch aus einer Zeit stammte, als man die Grenzen auch schon überwand, indem man sie mit Panzern überrollte. Hier saß er nun, in dem alten Gemäuer, und betrachtete die Bruchsteinwand am Ofen, während oben seine eigenen Worte von anderen in den Mund genommen wurden. So konnte er sie, seine Worte, allmählich loslassen, dachte er. Etwas loszulassen ist ja in der Regel kein einfaches Unterfangen.
An der Bruchsteinmauer hing ein großer Wandbehang, der ihn etwas irritierte. Die Stoffe, aus denen er gefertigt war, kamen ihm so seltsam vertraut vor. Sie waren entweder kleingeblümt oder großgemustert, sie waren einfarbig und kariert, verwaschen und verblichen, sie hatten Löcher und geflickte Stellen. Pierre mußte an seine Mutter denken. Man hätte sie in diesen Wandbehang einhüllen können... er drehte sich ein wenig auf seinem Sessel, um die Beschriftung des Wandbehangs zu lesen. "Jahrhundertfrau", ja... Seine Mutter war auch eine solche Frau gewesen, die fast das komplette 20.Jh erlebt und nur selten ihre Schürze abgelegt hatte. Die Stoffe waren alte Schürzenstoffe, das erkannte er nun. Es waren schwere Zeiten, in denen die Schürzen getragen wurden. In die er hineingeboren wurde. Das Leben seiner Mutter und vieler ähnlicher Frauen, besonders derer aus dem Schiefergebirge, mit Höhen und Tiefen und Jugend und Alter, mit Armut und bescheidenem Wohlstand, mit nie enden wollender Arbeit, mit Kindern und oft mit nicht anwesenden Männern, mit Kaiser und Kirche und Weltkriegen und kalten Kriegen und Wenden und Neuanfängen, alles hineingegossen in einen einzigen irritierend verblasst-bunten Wandbehang, von dem auch noch hautfarbene Strumpfhalter, kleine Wollknäuel aus aufgeribbelter Wolle und Druckknöpfe namens "Frauenglück" herabbaumelten.
Pierre, nun seinen Gedanken dazu nachhängend (obwohl oben seine eigenen Gedichte rezitiert und intoniert wurden), erhob sich mitsamt seiner Kaffeetasse aus dem Sessel. Er wollte mehr sehen.
Sich den weiteren Bildern zuwendend, die die Namen "Schweres Erbe" und "Keine Macht dem Vermächtnis des Patriarchats" trugen, spürte er regelrecht die Schwere der lehmigen Ackerschollen unter seinen Füßen, die Tragik der Familiengeschichten auf seinen Schultern. Überall war es ja das Gleiche. Und überall hatten die Männer das Sagen, immer noch. Überall dominierten die Söhne, überall mußten die Töchter gucken, wo sie blieben. Wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Sich ihrer Minderwertigkeit nochmal deutlich bewußt gemacht. War man in Anatolien oder in der Eifel? War man im achtzehnten oder im einundzwanzigsten Jahrhundert? Man wußte es manchmal nicht so genau. Ewig Gestrige übten ihre Macht über ihren Tod hinweg aus. Er selber, Pierre, war ja auch ein Mann, so einer aus dieser altmodischen Generation. Er konnte es bei seinen eigenen Kindern nur besser machen.
Er kam an einem Bild vorbei, in dem die Blumen blühten. "Omi Maria hat jetzt Zeit, in den Garten zu gehen", hieß es. Pierre merkte: Es wurde allmählich bunter. Zwar wurden auch hier wieder alte Schürzenstoffe verwendet, aber diesmal blühten sie regelrecht auf. Tausende Stickstiche verwandelten sie in ein prachtvolles Beet. Omi Maria hatte vielleicht lange keine Zeit für ihren Garten gehabt. Das schien sich nun geändert zu haben.
Stufe um Stufe klomm Pierre im Flur nach oben. Die gestickten Bilder der Künstlerin Nadeschda wurden hier allmählich leichter, heller, luftiger. Pierre atmete regelrecht auf. Vögel, Blumen, Sterne, sommerliche Landschaften kamen ihm entgegen. So konnte sie auch sein, die Eifel. Die Schwester seiner eigenen Landschaft.
Er wurde in seiner Betrachtung von einem lauten und langanhaltenden Applaus unterbrochen. Französisch- und deutschsprachige Gedichte waren zuende vorgetragen, die Zuhörer begeistert. Sie strömten ihm entgegen, gratulierten ihm ausgiebig, zwinkerten ihm zu, hielten seine beiden Gedichtbände in den Händen, die er signieren mußte. Die Zuhörer gingen weiter nach unten in den zur Straße gelegenen Galerieraum hin; ihr Ziel war die Theke, wo es Kaffee und Schmalzbrote gab. Pierre hingegen stieg die letzten Stufen zum oberen Galerieraum hinauf. Hier war es hell, das Winterlicht fiel durch mehrere Fenster und Dachluken und verbreitete eine besondere Stimmung. Er war nicht alleine, mehrere Besucher hatten sich in Nadeschdas Arbeiten vertieft, lasen die gestickten und geschriebenen Worte und Gedichte, die sich über viele der Bilder gelegt hatten. Sein Blick fiel wieder auf eine Schürze, die wie ein Vorhang an einem der Fenster hing... nur sah sie diesmal ganz anders aus als die baumwollenen Schürzenstoffe, die er eben noch betrachtet hatte. Weiße kostbare Seide, leicht glänzend, auf die mit feinem Strich eine hauchzarte Feder gezeichnet war. Die Schürze wies einige Knicke im Stoff auf und franste unten auch aus – "Bewußt ungebügelte Schmuckschürze" las er auf dem beschreibenden Schild sowie ein Zitat der Autorin Ulla Hahn (aus dem Buch "Das verborgene Wort"): "Ich dachte nicht daran, mich ihren Spielregeln zu unterwerfen, den Spielregeln der Frauen, von Mutter, Großmutter, Tanten, Cousinen und Nachbarinnen. Mich kriegten sie nicht." Das paßt! dachte Pierre. Eine Schürze, die den ewigen Kreislauf der Arbeit durchbricht. Die nicht ist, wie sie sein soll. Die nur zum puren Schmuck taugt, mit einer leichten Feder verziert und mit durchsichtigen alten Glasknöpfen ohne eigentliche Bestimmung. Die alte Muster und Ordnungen konterkariert. Die zeigt, daß es nicht immer so sein muß, wie es schon immer gewesen ist. Daß es anders und besser werden kann.
Eigentlich war Pierre nun schon bis obenhin angefüllt mit Eindrücken; es reichte, sich ein paar der Arbeiten von Nadeschda genauer anzuschauen, um die Tiefe zu erfassen und die Zeit zu vergessen. Vor den anderen Bildern und kleinen Fahnen standen sowieso noch Leute, und so machte er sich wieder auf den Weg nach unten. Ein Glas Sekt wäre jetzt genau das richtige.
Es wurde nun allmählich auch dunkel. Nach und nach verabschiedeten sich die Besucher von Lesung und Ausstellung und es war nicht mehr so voll. Pierre gesellte sich an die Theke, wo er ein Glas Sekt angeboten bekam und in ein Plätzchen biß. Neben ihm stand, trotz ihrer beachtichen Körpergröße mit einem riesigen schwarzen Hut behütet, seine Verlegerin Christiane, die aufgeräumter Stimmung war ob des Erfolgs dieses Januarsonntags. Christiane hatte die Lesung im Rahmen der "Eifelkind"-Ausstellung angeregt, da sie beide Künstler kannte und die Kombination für gut und passend erachtete. Womit sie recht behielt. Das fanden alle. Auch die Galeristin Mechthild, die die Besucher unermüdlich und mit ehrlicher Begeisterung durch ihre kleine Galerie und durch die Ausstellung geführt hatte und nun schwungvoll eine Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank fischte. Den Weißwein kredenzte die stille Gudula, die so gerne mitfeierte, aber zwischendurch immer mal wieder zu den Bildern ging, um sich ganz in Ruhe eins davon genauer anzuschauen. Nadeschda, mit Sprudel im Glas, umarmte ihre alte Freundin Maria, die die gute Seele und Beschützerin der Ausstellung war. Sie hatte das Eifelkind auf der ganzen langen Strecke begleitet und behütet und eine für alle Anwesenden wirklich anrührende Eröffnungsansprache gehalten. Sie hatte für alles gesorgt und mit ihrer wirklich gourmetwürdigen Kochkunst immer wieder wunderbare Picknicks für Nadeschda und Mechthild zubereitet, damit diese während der Aufbauarbeiten und der Galeriezeiten nicht verhungerten. Daß sie eine ganz besondere Frau war, die wie er nun bald schon 80 Jahre alt wurde, das spürte auch Pierre. Zwischen diesen Menschen, die ihm eben noch vollkommen unbekannt waren, taute er auf und versprühte seinen Charme. Hier hatte er den Schalk im Nacken und fühlte sich pudelwohl. Es wurde erzählt, es wurde gegackert und geprustet, die Lachtränen rollten, gelöster als diese Stimmung gab es keine.
Pierre lud sie alle ein in sein Haus am Weinberg.
Und Nadeschda dachte, wie ging noch dieses Gedicht von Rilke, und natürlich fiel es ihr mal wieder nicht ein, sie mußte es am anderen Morgen nachlesen: "Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht."
Am nächsten Tag schickten sich dann alle gegenseitig Grüße hin und her. Sie versicherten sich, was es doch für ein wunderbarer Abend mit der kleinen Runde in der Küche gewesen sei. Wie um den flüchtigen Moment wenigstens ein kleines bißchen festzuhalten, indem man ihn in ähnlich flüchtige Buchstaben und Sätze gießt. Mechthild tippte es Nadeschda per WhatsApp. Nadeschda rief Maria an. Gudula schrieb Maria eine Mail. Christiane schrieb auch eine Mail und richtete Nadeschda aus, daß Pierre den Abend ebenfalls sehr genossen hätte. Dies hatte er ihr schon gestern auf der Heimfahrt gesagt. Alle waren sich einig.
Man kann einen solchen Abend nicht planen. Man kann ihn auch nicht wiederholen. Man kann sich aber sehr, sehr gerne an ihn erinnern, besonders dann, wenn die alten, dunklen Schürzenstoffe sich mal wieder über die Tage auszubreiten drohen. Dann hat man ein federleichtes, helles, seidig leuchtendes Gegenmittel zur Hand: Wie eine Offenbarung zum Weiterleben seines eigenen Lebens.
© Nadja Hormisch, Februar 2020
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"(...) Und genau hier beginnt Nadeschdas Arbeit an ihrem Eifelkind.
Geschichte geht durch uns Menschen hindurch. Dies hat sie buchstäblich am eigenen Leib erfahren.
Tragische Ereignisse in der Familie, die Lücken, die der Zweite Weltkrieg geschlagen hat – Auswirkungen davon reichen häufig bis in die heutige Zeit und können einem sprichwörtlich den Atem zum Leben rauben. (...)
Nachfahren können für die Schuld ihrer Ahnen, die durch Verdrängung immer in die nächste und nächste und nächste Generation weitergegeben wurde, nicht die Verantwortung übernehmen. Sie können nur Antworten suchen, Visionen entwickeln und – wie Nadeschda es ausdrückt – an einem besseren Leben in einer besseren Welt arbeiten.
Wie eine Beschwörung an die Geister der Vergangenheit, die immer noch da sind, stets noch mit uns zusammenleben, gibt sie ihnen ihren Platz, ihren Namen, ihre Identität wieder. Sie würdigt und ehrt sie mit tausenden Nadelstichen, mit kostbaren Stoffen und feinsten Garnen.
Sie wickelt den Kokon ab, in den die Vorfahren sie eingesponnen, verwickelt und verknotet haben. Negatives wird in Positives umgewandelt, Schwerem wird Leichtes entgegengesetzt, das Zarte überwindet das Harte.
Unsichtbare Geschöpfe werden in ätherische Stoffe gekleidet, oft gleichen sie gesponnenem Licht. So macht Nadeschda das Wesen der Dinge sichtbar. Wie auf dem Bild der Einladung werden die feinen Nadelstiche winzige Fenster, durch die uns Nadeschda hinter die Wirklichkeit schauen lässt.
Nichts ist zufällig. Immer stehen die Materialien im Zusammenhang mit den Themen der Objekte.
Nadeschda verwendete für einige Arbeiten dieser Ausstellung auch Reste von getragenen Schürzen - Arbeits- und Alltagskleidung aus vergangener Zeit. Stich für Stich werden sie zusammengefügt. Reihe für Reihe wie eine gestickte Botschaft ziehen sie sich über das Bild, wie ein Brief aus der Vergangenheit oder in die Vergangenheit. Verblasste Schürzenstoffe verwandeln sich in ihren Bildern so in wundervolle bunte Festgewänder.
Auch dem kargen, steinigen Land nimmt Nadeschda die Schwere und zeigt uns seine Schönheit in poetischen Bildern von Pflanzen, Tieren, Hecken, Bäumen, Hügeln und Seen. Mit feinsten Fäden lässt sie das Eifelgold erblühen. Wir schreiten über dämmergrünes Moos an die verborgenen Orte, wo die Heidelbeeren wachsen, Goldklümpchen sich versteckt, seltsame Gestalten auf uns warten, die nicht sind, was sie zu sein scheinen.
Jedes Werk dieser Ausstellung erzählt seine eigene Geschichte als Teil einer einzigen Geschichte, die weit zurückweist und gehört und verstanden werden will.
Dieser Sehnsucht, nämlich verstanden zu werden, begegnen wir ebenfalls in den poetischen Texten - erinnern wir uns an den Anfang: Immer häufiger lässt Nadeschda sie aus der Nadel in ihre Bilder fließen. Texte, die sich über die Bilder legen, nach denen man graben muss, deren Sinn gefunden werden will.
Lassen Sie sich nun verzaubern von Nadeschdas Kunst. Lassen Sie sich berühren, gehen Sie nahe heran, nehmen sie sich Zeit.
Wagen Sie es, hinter der scheinbaren Leichtigkeit in die Tiefe zu schauen (...)"
Ausschnitt aus der "Eifelkind"-Laudatio von Maria Michels
Was in der Propstei geschah
Es war ganz still. Das bleiche Licht des Vollmondes fiel durch das runde Seitenfenster der alten Klosterkirche. Die geöffneten Fensterluken ließen den Wind herein, der mit den weißen Fahnen zu spielen begann. Er hob sie an, er blähte sie auf und ließ sie wieder fallen, daß sie glatt an ihren Fahnenstangen hingen.
Es war Mai, genauer gesagt Pfingsten, und die alte Kirche war festlich geschmückt. Buchenzweige mit frischen grünen Blättern und blühende Apfelbaumzweige standen in großen Vasen, denn vor Tagen war eine Marienprozession hier eingekehrt. Langsam gehend, Gebete summend und Lieder singend, hatte sie sich den Buchholzer Berg hinaufbewegt, die alte Kirche im Blick und als Ziel. Seit die Mönche vor fast zweihundert Jahren ausgezogen waren, wurde nur noch selten hier gebetet, aber einmal im Jahr ließ die Prozession die alten Lieder wieder erklingen.
Nun war es ruhig, nicht mal der Steinkauz von der benachbarten Streuobstwiese war zu hören. Doch was war das? Ein Glitzern im fahlen Mondlicht, ein Leuchten aus goldrund glänzenden Augen – der Steinkauz, er war hier. Hier, im Raum! Er sagte nichts, gab keinen Laut von sich, aber um so mehr schienen seine Augen zu sprechen. Sei wachsam, schienen sie zu mahnen. Das Leben ist kurz und kostbar.
Der Steinkauz war nicht der einzige Vogel in der Propstei. Schon tagsüber kamen manchmal kleine Schwalbenschwärme durch die geöffneten Fensterluken und erfüllten den Raum mit lärmendem Gezwitscher. Auch einzelne Rotschwänze kamen immer mal wieder herein und drehten eine Runde im Flug. Nun, des nachts, wachte der Steinkauz. Oder, genau genommen, sein Abbild. Es war aus Seide, aus seidenen Fäden gestickt, fein und durchscheinend und fast wie nicht da und doch so real. Nadeschda kannte den Steinkauz und hatte ihn gestickt. Dies war ihre Ausstellung, hier in der Propstei, und sie war von allerlei Wesen bevölkert. Neben dem Steinkauz hing ein Rotkehlchen, klein und fedrig-plustrig, es trug eine grüne Krone aus Blättern, Zweigen und Federn. Es wirkte so lebendig, als wollte es in jedem Augenblick losfliegen. "Kleines Nichts und doch soviel" hatte Nadeschda das Rotkehlchen genannt, denn es war so winzig, so unbedeutend, und doch so wichtig wie die ganze Welt, zusammengeballt in einen kleinen warmen Körper mit roter Brust.
Nadeschda saß ganz alleine in der Kirchenbank. Ein paar Kerzen hatte sie angezündet, um dem fahlen Mondlicht etwas warmes entgegenzusetzen. Sie war nachts um elf Uhr zurückgekommen, um ihre Bilder zu besuchen. Nachdem tagsüber viele Besucher dagewesen waren, wollte sie nun alleine eine stille Andacht abhalten. Dort vorne, wie an einem Flügelaltar, hingen an weißen Stellwänden die Bilder "Kleine Katharina I." und "Kleiner Nikolaus I.". Sind das Königskinder, hatte heute ein Besucher gefragt. Nadeschda hatte geantwortet, das hätte sie selber auch schon gedacht: die Namen würden russischen Zarennamen gleichen. Aber nein, es wären ganz einfache Bauerskinder aus der Eifel gewesen. Aus Kreuzdorf bei Neuerburg. Die beiden Kleinen waren vor sehr langer Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, im Kindesalter gestorben, und man hatte den beiden ihnen nachfolgenden Kindern dann deren Namen gegeben. Nadeschda erinnerte an die beiden toten, namentlich ausgelöschten Kinder und gab ihnen mit silbernem Faden auf nachtblauem Sternengrund ihr Dagewesensein zurück. Und sie erinnerte an die schwere, ungenannte Bürde des Stellvertretens, die den beiden großen Kindern zeitlebens oblag und schenkte ihnen zum Ausgleich jeweils ein luftig-sommerliches, unbeschwertes Lebensbild. Nun glänzten die vier Kinder hier im Kerzenlicht der alten Propstei. Viele hatten sie gesehen, viele hatten sich für sie begeistert, viele hatten sie wahrgenommen und gewürdigt. Für ihr so kurzes oder so schweres Leben vor langer Zeit wurden sie hier ein kleines bißchen entschädigt.
Für Heinrich hatte Nadeschda sogar ein Altärchen gebaut. Eine durchscheinende Stickerei, grün wie Moos und grau wie Stein lag auf einer Glasplatte, neben der zwei festliche Kerzenständer standen und goldenes Licht verbreiteten. Heinrich war einer von sechzig Millionen Toten, die der Zweite Weltkrieg zu verantworten hatte. Im Alter von dreiunddreißig Jahren war er kurz nach Kriegsende seinen Verletzungen im Lazarett erlegen. Und er war Nadeschdas unbekannter Großvater gewesen. "Die Lücke war einfach zu groß. Niemand vermochte sie zu füllen, Heinrich" stand auf der Seide geschrieben, die auf der Glasplatte lag. Und das galt nicht nur für Heinrich, sondern für alle gewaltsam im Krieg zu Tode Gekommenen. Ihre Lücken zeigten Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Das erzählten auch viele Besucher, die sich beim Anblick von Heinrichs Altärchen an die eigenen Lücken in ihren Familien erinnerten.
"Jetzt habe ich genug für Euch getan. Ich habe den kleinen Kindern die Sterne vom Himmel geholt. Ich habe den großen Kindern das Land zum Leuchten gebracht. Ich habe die Blumen in den Gärten der Großmütter wachsen lassen. Mehr kann ich nicht tun. Jetzt seid Ihr an der Reihe. Stärkt mir den Rücken!" sagte Nadeschda. Es wisperte im Raum, das Mondlicht vibrierte, von draußen wehte die Mainacht herein. "Jetzt ist mein Leben an der Reihe; ich, jetzt, hier, in dieser Zeit." Wie zur Bestätigung rauschte das silberne Segelschiff auf nachtblauem Grund, die FRAM, die ihre Entdecker bis in entfernte und nie für möglich gehaltene Gefilde befördert hatte. "Ich besteige jetzt das Schiff. Den schweren Lehmboden streife ich von meinen Schuhen ab. Die Sonnenbraut nehme ich mit."
Nadeschda löschte die Kerzen. Es war ganz ruhig; es war totenstill. Sie trat zur Kirchentür hinaus in die laue Frühlingsnacht, die schon leicht gewürzt war mit dem Duft der wilden Geißblattblüten, die in den nächsten Tagen aufblühen und das Leben ohne Umschweife wie einen weißgelben Rausch und wie einen betörenden Sturm feiern würden.
© Nadja Hormisch 2016
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22. März bis 19. Juni 2015
"REIN STOFFLICH"
Im KunstForumEifel in Schleiden-Gemünd fand von Mitte März bis Mitte Juni 2015 die große Textilkunst-Ausstellung "REIN STOFFLICH – TEXTILES MATERIAL ALS KÜNSTLERISCHES MITTEL" statt, die von Eva-Maria Hermanns kuratiert wurde:
"... der Faden, das Tuch, die Wolle, die Seide, das Leinen, die Schnur, das Seil, das Loch, der Knopf, die Naht, das Kleid, Bänder, Litzen, Draht und Spitzen ... gehäkelt, gestrickt, gewickelt, gestickt, geschnitten, gerissen, gewebt, gefaltet, geknüpft, genäht, geknotet, gefärbt und gefilzt von ..."
Ursula Andermahr, Uta Arnhardt, Monika Brenner +, Eva Görgen, Nadja Hormisch, Elke Körner, Ute Kühr, Traudel Lindauer, Christiane Lorber, Veronika Moos-Bruchhagen, Heike Reul, Margret Riedl, Barbara Riege, Birgit Rüberg, Margret Schopka, Karen Betty Tobias, Martina Unterharnscheidt, Inge van Kann, Michael Vogt, Susanne Waltermann, Elisabeth Wankerl, Carola Willbrand, Angelika Wittek, Bena Zemp.
Es war mir eine Ehre, mehrere meiner Arbeiten gemeinsam mit Werken dieser großartigen Textilkünstler*innen im phantastischen Ambiente des KunstForumEifel ausstellen zu können!