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Ausstellungen
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"(...) Und genau hier beginnt Nadeschdas Arbeit an ihrem Eifelkind.

Geschichte geht durch uns Menschen hindurch. Dies hat sie buchstäblich am eigenen Leib erfahren.
Tragische Ereignisse in der Familie, die Lücken, die der Zweite Weltkrieg geschlagen hat – Auswirkungen davon reichen häufig bis in die heutige Zeit und können einem sprichwörtlich den Atem zum Leben rauben. (...)
Nachfahren können für die Schuld ihrer Ahnen, die durch Verdrängung immer in die nächste und nächste und nächste Generation weitergegeben wurde, nicht die Verantwortung übernehmen. Sie können nur Antworten suchen, Visionen entwickeln und – wie Nadeschda es ausdrückt – an einem besseren Leben in einer besseren Welt arbeiten.

Wie eine Beschwörung an die Geister der Vergangenheit, die immer noch da sind, stets noch mit uns zusammenleben, gibt sie ihnen ihren Platz, ihren Namen, ihre Identität wieder. Sie würdigt und ehrt sie mit tausenden Nadelstichen, mit kostbaren Stoffen und feinsten Garnen.
Sie wickelt den Kokon ab, in den die Vorfahren sie eingesponnen, verwickelt und verknotet haben. Negatives wird in Positives umgewandelt, Schwerem wird Leichtes entgegengesetzt, das Zarte überwindet das Harte.
Unsichtbare Geschöpfe werden in ätherische Stoffe gekleidet, oft gleichen sie gesponnenem Licht. So macht Nadeschda das Wesen der Dinge sichtbar. Wie auf dem Bild der Einladung werden die feinen Nadelstiche winzige Fenster, durch die uns Nadeschda hinter die Wirklichkeit schauen lässt.

Nichts ist zufällig. Immer stehen die Materialien im Zusammenhang mit den Themen der Objekte.
Nadeschda verwendete für einige Arbeiten dieser Ausstellung auch Reste von getragenen Schürzen - Arbeits- und Alltagskleidung aus vergangener Zeit. Stich für Stich werden sie zusammengefügt. Reihe für Reihe wie eine gestickte Botschaft ziehen sie sich über das Bild, wie ein Brief aus der Vergangenheit oder in die Vergangenheit. Verblasste Schürzenstoffe verwandeln sich in ihren Bildern so in wundervolle bunte Festgewänder.
Auch dem kargen, steinigen Land nimmt Nadeschda die Schwere und zeigt uns seine Schönheit in poetischen Bildern von Pflanzen, Tieren, Hecken, Bäumen, Hügeln und Seen. Mit feinsten Fäden lässt sie das Eifelgold erblühen. Wir schreiten über dämmergrünes Moos an die verborgenen Orte, wo die Heidelbeeren wachsen, Goldklümpchen sich versteckt, seltsame Gestalten auf uns warten, die nicht sind, was sie zu sein scheinen.

Jedes Werk dieser Ausstellung erzählt seine eigene Geschichte als Teil einer einzigen Geschichte, die weit zurückweist und gehört und verstanden werden will.
Dieser Sehnsucht, nämlich verstanden zu werden, begegnen wir ebenfalls in den poetischen Texten - erinnern wir uns an den Anfang: Immer häufiger lässt Nadeschda sie aus der Nadel in ihre Bilder fließen. Texte, die sich über die Bilder legen, nach denen man graben muss, deren Sinn gefunden werden will.
Lassen Sie sich nun verzaubern von Nadeschdas Kunst. Lassen Sie sich berühren, gehen Sie nahe heran, nehmen sie sich Zeit.
Wagen Sie es, hinter der scheinbaren Leichtigkeit in die Tiefe zu schauen (...)"

Ausschnitt aus der "Eifelkind"-Laudatio von Maria Michels



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Was in der Propstei geschah

Es war ganz still. Das bleiche Licht des Vollmondes fiel durch das runde Seitenfenster der alten Klosterkirche. Die geöffneten Fensterluken ließen den Wind herein, der mit den weißen Fahnen zu spielen begann. Er hob sie an, er blähte sie auf und ließ sie wieder fallen, daß sie glatt an ihren Fahnenstangen hingen.
Es war Mai, genauer gesagt Pfingsten, und die alte Kirche war festlich geschmückt. Buchenzweige mit frischen grünen Blättern und blühende Apfelbaumzweige standen in großen Vasen, denn vor Tagen war eine Marienprozession hier eingekehrt. Langsam gehend, Gebete summend und Lieder singend, hatte sie sich den Buchholzer Berg hinaufbewegt, die alte Kirche im Blick und als Ziel. Seit die Mönche vor fast zweihundert Jahren ausgezogen waren, wurde nur noch selten hier gebetet, aber einmal im Jahr ließ die Prozession die alten Lieder wieder erklingen.
Nun war es ruhig, nicht mal der Steinkauz von der benachbarten Streuobstwiese war zu hören. Doch was war das? Ein Glitzern im fahlen Mondlicht, ein Leuchten aus goldrund glänzenden Augen – der Steinkauz, er war hier. Hier, im Raum! Er sagte nichts, gab keinen Laut von sich, aber um so mehr schienen seine Augen zu sprechen. Sei wachsam, schienen sie zu mahnen. Das Leben ist kurz und kostbar.
Der Steinkauz war nicht der einzige Vogel in der Propstei. Schon tagsüber kamen manchmal kleine Schwalbenschwärme durch die geöffneten Fensterluken und erfüllten den Raum mit lärmendem Gezwitscher. Auch einzelne Rotschwänze kamen immer mal wieder herein und drehten eine Runde im Flug. Nun, des nachts, wachte der Steinkauz. Oder, genau genommen, sein Abbild. Es war aus Seide, aus seidenen Fäden gestickt, fein und durchscheinend und fast wie nicht da und doch so real. Nadeschda kannte den Steinkauz und hatte ihn gestickt. Dies war ihre Ausstellung, hier in der Propstei, und sie war von allerlei Wesen bevölkert. Neben dem Steinkauz hing ein Rotkehlchen, klein und fedrig-plustrig, es trug eine grüne Krone aus Blättern, Zweigen und Federn. Es wirkte so lebendig, als wollte es in jedem Augenblick losfliegen. "Kleines Nichts und doch soviel" hatte Nadeschda das Rotkehlchen genannt, denn es war so winzig, so unbedeutend, und doch so wichtig wie die ganze Welt, zusammengeballt in einen kleinen warmen Körper mit roter Brust.
Nadeschda saß ganz alleine in der Kirchenbank. Ein paar Kerzen hatte sie angezündet, um dem fahlen Mondlicht etwas warmes entgegenzusetzen. Sie war nachts um elf Uhr zurückgekommen, um ihre Bilder zu besuchen. Nachdem tagsüber viele Besucher dagewesen waren, wollte sie nun alleine eine stille Andacht abhalten. Dort vorne, wie an einem Flügelaltar, hingen an weißen Stellwänden die Bilder "Kleine Katharina I." und "Kleiner Nikolaus I.". Sind das Königskinder, hatte heute ein Besucher gefragt. Nadeschda hatte geantwortet, das hätte sie selber auch schon gedacht: die Namen würden russischen Zarennamen gleichen. Aber nein, es wären ganz einfache Bauerskinder aus der Eifel gewesen. Aus Kreuzdorf bei Neuerburg. Die beiden Kleinen waren vor sehr langer Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, im Kindesalter gestorben, und man hatte den beiden ihnen nachfolgenden Kindern dann deren Namen gegeben. Nadeschda erinnerte an die beiden toten, namentlich ausgelöschten Kinder und gab ihnen mit silbernem Faden auf nachtblauem Sternengrund ihr Dagewesensein zurück. Und sie erinnerte an die schwere, ungenannte Bürde des Stellvertretens, die den beiden großen Kindern zeitlebens oblag und schenkte ihnen zum Ausgleich jeweils ein luftig-sommerliches, unbeschwertes Lebensbild. Nun glänzten die vier Kinder hier im Kerzenlicht der alten Propstei. Viele hatten sie gesehen, viele hatten sich für sie begeistert, viele hatten sie wahrgenommen und gewürdigt. Für ihr so kurzes oder so schweres Leben vor langer Zeit wurden sie hier ein kleines bißchen entschädigt.
Für Heinrich hatte Nadeschda sogar ein Altärchen gebaut. Eine durchscheinende Stickerei, grün wie Moos und grau wie Stein lag auf einer Glasplatte, neben der zwei festliche Kerzenständer standen und goldenes Licht verbreiteten. Heinrich war einer von sechzig Millionen Toten, die der Zweite Weltkrieg zu verantworten hatte. Im Alter von dreiunddreißig Jahren war er kurz nach Kriegsende seinen Verletzungen im Lazarett erlegen. Und er war Nadeschdas unbekannter Großvater gewesen. "Die Lücke war einfach zu groß. Niemand vermochte sie zu füllen, Heinrich" stand auf der Seide geschrieben, die auf der Glasplatte lag. Und das galt nicht nur für Heinrich, sondern für alle gewaltsam im Krieg zu Tode Gekommenen. Ihre Lücken zeigten Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Das erzählten auch viele Besucher, die sich beim Anblick von Heinrichs Altärchen an die eigenen Lücken in ihren Familien erinnerten.
"Jetzt habe ich genug für Euch getan. Ich habe den kleinen Kindern die Sterne vom Himmel geholt. Ich habe den großen Kindern das Land zum Leuchten gebracht. Ich habe die Blumen in den Gärten der Großmütter wachsen lassen. Mehr kann ich nicht tun. Jetzt seid Ihr an der Reihe. Stärkt mir den Rücken!" sagte Nadeschda. Es wisperte im Raum, das Mondlicht vibrierte, von draußen wehte die Mainacht herein. "Jetzt ist mein Leben an der Reihe; ich, jetzt, hier, in dieser Zeit." Wie zur Bestätigung rauschte das silberne Segelschiff auf nachtblauem Grund, die FRAM, die ihre Entdecker bis in entfernte und nie für möglich gehaltene Gefilde befördert hatte. "Ich besteige jetzt das Schiff. Den schweren Lehmboden streife ich von meinen Schuhen ab. Die Sonnenbraut nehme ich mit."
Nadeschda löschte die Kerzen. Es war ganz ruhig; es war totenstill. Sie trat zur Kirchentür hinaus in die laue Frühlingsnacht, die schon leicht gewürzt war mit dem Duft der wilden Geißblattblüten, die in den nächsten Tagen aufblühen und das Leben ohne Umschweife wie einen weißgelben Rausch und wie einen betörenden Sturm feiern würden.

©
Nadja Hormisch 2016

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